Massenmord per Sanktionspolitik
Mehr als eine halbe Million Menschen kommen jährlich laut einer aktuellen Studie durch die Folgen westlicher Sanktionen zu Tode – rund fünfmal so viele, wie durchschnittlich in Kampfhandlungen in Kriegen sterben.
LONDON/BERLIN (Eigener Bericht) – Die Sanktionsregimes der transatlantischen Mächte, auch Deutschlands und der EU, fordern in den betroffenen Ländern jedes Jahr über eine halbe Million Todesopfer. Das ist das Ergebnis einer neuen Studie, über die vergangene Woche die renommierte medizinische Fachzeitschrift The Lancet berichtet hat. Demnach sterben im Durchschnitt mehr als 564.000 Menschen im Jahr an Sanktionsfolgen wie Hunger, Mangel an medizinischer Versorgung und fehlenden Hilfsleistungen. Weit überdurchschnittlich sind Kinder und ältere Menschen betroffen. Dabei liegt die Zahl der Sanktionsopfer gut fünfmal so hoch wie die Zahl der Menschen, die jährlich bei Kampfhandlungen in Kriegen ums Leben kommen. Die in The Lancet vorgestellte Studie bestätigt umfassend, was anhand von Fallbeispielen lange bekannt ist. So starben etwa im Irak in den 1990er Jahren durch die Folgen der damaligen Sanktionen eine halbe Million Kinder. US-Außenministerin Madeleine Albright sagte 1996 dazu, die politischen Ziele, die man mit den Sanktionen verfolge, seien „diesen Preis wert“. Dramatische Schäden in der Bevölkerung rufen noch heute etwa die Sanktionen gegen Afghanistan hervor.
Eine halbe Million Tote pro Jahr
Die Untersuchung zu den Folgen von Sanktionen, über die die Fachzeitschrift The Lancet in ihrer aktuellen Ausgabe informiert, bringt die hohe Zahl an Todesopfern mit Mangel an einer Vielzahl lebensnotwendiger Güter in Verbindung. Sanktionen führten dazu, dass die betroffenen Staaten ihre Versorgungsleistungen reduzieren müssten, heißt es in dem Bericht; dies gelte nicht zuletzt für die Gesundheitsversorgung.[1] Auch könnten medizinische Güter, Nahrungsmittel und weitere unverzichtbare Produkte nicht mehr eingeführt werden – häufig, weil gezielte Finanzsanktionen die Bezahlung von Importen unmöglich machten. Oft sei zudem eine Beschränkung der Tätigkeit von Hilfsorganisationen zu beklagen: entweder, weil die Sanktionen ihre Aktivitäten objektiv verhinderten, oder weil die Organisationen im Hinblick auf das meist völlig undurchsichtige Sanktionsgeflecht sich nicht in der Lage sähen, die mit ihm verbundenen Risiken auf sich zu nehmen. Die Untersuchung beziffert die Zahl der jährlichen Todesopfer im Durchschnitt auf rechnerisch 564.258; dies sind mehr als fünfmal so viele wie die Menschen, die im Jahresschnitt bei Kampfhandlungen in Kriegen zu Tode kamen – rund 106.000 –, und in etwa so viele wie die realen Todesopfer von Kriegen, die – zivile Todesopfer und an Kriegsfolgen Verstorbene inklusive – jährlich zu beklagen sind.
Politische Ziele
The Lancet weist ausdrücklich darauf hin, dass 77 Prozent der Todesopfer den Altersgruppen bis zu 15 oder zwischen 60 und 80 Jahren angehören; Kinder, Jugendliche und Senioren sind damit weit überdurchschnittlich betroffen. 51 Prozent der Todesopfer sind weniger als fünf Jahre alt.[2] Dabei sind heute 25 Prozent aller Staaten weltweit von Sanktionen betroffen. In den 1960er Jahren lag ihr Anteil noch bei acht Prozent. Die Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass ein signifikanter Unterschied zwischen Sanktionen besteht, die von der UNO verhängt wurden, und solchen, die die USA oder auch die Staaten der EU oktroyiert haben. Von den Vereinten Nationen beschlossene Sanktionen – die einzigen, die das internationale Recht anerkennt – führen demnach meistens nicht mehr zu einem messbaren Anstieg an Todesopfern, da sie zumindest dem Anspruch nach die Folgen für die Bevölkerung so gering wie möglich zu halten suchen. Sanktionen der USA – und der EU-Staaten – zielen dagegen häufig ganz explizit darauf ab, mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen den Sturz missliebiger Regierungen zu forcieren oder diese zumindest wachsendem Druck seitens der Bevölkerungen auszusetzen, ihr Verhalten zu ändern. Zudem seien USA und EU mit ihrer wirtschaftlichen Macht sowie mit dem Gewicht ihrer Währungen in der Lage, durch Sanktionen ökonomische Flurschäden hervorzurufen.
„Sie sind diesen Preis wert“
Die von The Lancet wiedergegebene Untersuchung bestätigt damit umfassend, was Experten schon lange aufgrund von Fallbeobachtungen und einzelnen Recherchen für gesichert halten: dass Sanktionen in den Bevölkerungen der betroffenen Länder verheerende Folgen hervorrufen, unter Umständen sogar verheerendere Folgen als ein Krieg. Für die Sanktionen, die 1990 gegen den Irak verhängt wurden, ist etwa belegt, dass sie den Kalorienverbrauch pro Tag und Kopf der Bevölkerung von 3.120 im Jahr 1989 auf 1.093 im Jahr 1995 einbrechen ließen. Der Gesundheitsetat des Irak musste sanktionsbedingt auf ein Zehntel seines einstigen Betrags gekürzt werden. Der Zusammenbruch der Trinkwasserversorgung begünstigte eine Ausbreitung von Krankheiten wie Cholera. Die damalige UNICEF-Direktorin Carol Bellamy konstatierte 1999: „Hätte die erhebliche Abnahme der Kindersterblichkeit in den 80ern in den 90er Jahren angehalten, so wären insgesamt eine halbe Million weniger Todesfälle in den acht Jahren von 1991 bis 1998 bei Kindern unter fünf Jahren zu verzeichnen gewesen.“[3] 1996 erklärte US-Außenministerin Madeleine Albright auf die Frage, ob die politischen Ziele den Tod von schon damals einer halben Million Kinder (unter und über fünf Jahren) „wert“ gewesen seien: „Wir denken, dass sie diesen Preis wert sind.“[4]
„Not macht mutig“
Katastrophale Auswirkungen auf die Bevölkerung hatten auch die Sanktionen, die USA und EU während der Herrschaft von Bashar al Assad gegen Syrien verhängt hatten. Indem sie den Finanz- und den Transportsektor trafen, verhinderten sie faktisch die Einfuhr unter anderem von Lebensmitteln und Medikamenten, die weder bezahlt noch ins Land gebracht werden konnten. Wie eine im Juli 2022 an der renommierten Tufts University in Boston publizierte Studie feststellte, schädigten die Sanktionen auch die syrische Landwirtschaft: Weder Dünge- noch Pflanzenschutzmittel oder landwirtschaftliches Gerät durften nach Syrien importiert werden.[5] Die Finanzsanktionen erschwerten zudem Rücküberweisungen von im Ausland lebenden Syrern an ihre Verwandten im Land – eine wichtige Einkommensquelle – erheblich. Die Sanktionen trugen in hohem Maße dazu bei, dass die Lebensbedingungen nach dem Ende des offenen Krieges in mancher Hinsicht sogar noch schlechter wurden. So teilte das World Food Programme (WFP) Anfang 2023 mit, der Preis für einen Standard-Nahrungsmittelkorb habe sich von Oktober 2019 bis Oktober 2022 um den Faktor 15 verteuert; in Syrien sei der Hunger stärker denn je seit Kriegsbeginn.[6] Zur Stoßrichtung der Sanktionen hieß es im Jahr 2020 bei der öffentlich-rechtlichen Tagesschau mit Blick auf etwaige Hungerrevolten: „Armut und Not machen Syrer mutig“.[7]
Vor der Hungersnot
Nach dem Sturz der Regierung unter Präsident Al Assad haben die westlichen Staaten ihre Sanktionen aufzuheben begonnen. Das islamistische Regime unter Ahmed Al Sharaa ist zwar in Massaker an mehr als 1.500 Angehörige der alawitischen Minderheit und in mörderische Gewalt gegen Drusen involviert, die ebenfalls mehr als tausend Menschen das Leben kostete, ist aber bereit, sich außenpolitisch dem Westen unterzuordnen (german-foreign-policy.com berichtete [8]). Unverändert mit Sanktionen belegt ist etwa Afghanistan. Zur Lage dort erläuterte bereits im Februar 2023 der Afghanistan-Experte Conrad Schetter, die Wirtschaft des Landes sei „aufgrund der internationalen Sanktionen ... zum Erliegen gekommen“.[9] Inzwischen lebten „97 Prozent der Menschen“ in Afghanistan „unter der Armutsgrenze“; der Großteil der Bevölkerung sei „direkt von humanitärer Hilfe abhängig“. „Wenn diese Hilfen wegfielen, würde eine dramatische Hungersnot drohen“, warnte Schetter bereits damals. Die Trump-Administration hat nun ihre humanitäre Hilfe gekürzt; auch EU-Staaten haben dies begonnen. Die westlichen Sanktionen allerdings dauern an.
[1], [2] Francisco Rodríguez, Silvio Rendón, Mark Weisbrot: Effects of international sanctions on age-specific mortality: a cross-national panel data analysis. In: The Lancet Global Health, Volume 13, Issue 8, August 2025. S. 1358-1366.
[3] Joachim Guilliard: Humanitäre Hilferufe. Untersuchungsberichte von UN- und anderen Hilfsorganisationen über die Auswirkungen des Embargos. In: Rüdiger Göbel, Joachim Guilliard, Michael Schiffmann: Der Irak. Ein belagertes Land. Köln 2001. S. 190-196. S. auch Die Kulturzerstörer.
[4] Zitiert nach: Ramsey Clark: Feuer und Eis. Die Zerstörung des Irak durch Krieg und Sanktionen. In: Rüdiger Göbel, Joachim Guilliard, Michael Schiffmann: Der Irak. Ein belagertes Land. Köln 2001. S. 32-66.
[5] Mohammad Kanfash: Sanctions and Food Insecurity in Syria. sites.tufts.edu 06.07.2022. S. auch Sanktionen gegen Nothilfe.
[6] Hunger soars to 12-year high in Syria, WFP chief calls for urgent action. wfp.org 27.01.2023.
[7] Jürgen Stryjak: Armut und Not machen Syrer mutig. tagesschau.de 15.06.2020.
[8] S. dazu Befehlskette bis nach Damaskus.
[9] Conrad Schetter: „Die humanitäre Lage in Afghanistan ist eine Katastrophe“. bpb.de 27.02.2023.

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